Im Bild die Installation «Die Deutschen des 21. Jahrhunderts» von dem italienischen Fotografen Oliviero Toscaniam am Potsdamer Platz in Berlin.

Das Europa der gemeinsamen Probleme

Demografischer Wandel, ökologische Krisen und gesellschaftliche Fragmentierung – angesichts dieser Herausforderungen kann die Antwort auf die Frage nach einem europäischen Sozialmodell der Zukunft nicht allein in großzügiger Sozialpolitik liegen. Sie muss in einer neuen Form der «Solidarischen Adaption» gefunden werden, in der alle Bürger*innen Verantwortung übernehmen und Veränderungen aktiv mitgestalten.

In den Nullerjahren unseres Jahrhunderts wurde viel über die Zukunft des europäischen Sozialmodells nachgedacht. Es war schon damals klar, dass in Europa mehrere Varianten davon existieren: ein liberales angelsächsisches Modell, das lediglich bedarfsgeprüfte Leistungen von Seiten des Staates vorsieht, sonst aber den Einzelnen aufbürdet, sich Versorgungsleistungen am Markt zu verschaffen; ein konservatives kontinentaleuropäisches Modell, das die Versorgung der Bevölkerung durch eine staatlich geregelte Sozialversicherung nach Beitragssätzen gewährleistet; sowie ein sozialdemokratisch skandinavisches, das auf eine durch Steuern finanzierte Sozialbürgerschaft abhebt. Immer ging es darum, die auf dem Grundsatz der Gleichheit beruhende Demokratie mit dem zur Ungleichheit führenden Kapitalismus zu versöhnen. In den Worten von Wolfgang Streeck: Man sorgte sich nach dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus um die Zukunft des demokratischen Kapitalismus.

Heute weiß man, dass das europäische Sozialmodell – gleich in welcher Variante – ohne Kriege, ohne Klimawandel, ohne Migration, ohne Finanzmarktkrisen und ohne Arbeitskraftmangel gedacht war. In Dänemark macht der Sozialstaat die Schotten dicht gegen versorgungsintensive Zuwanderung; das Groß­britannien von Tony Blair ist dem Irrtum erlegen, dass im Kapitalismus der Zukunft die Werte von einer deindustrialisierten Dienstleistungsgesellschaft mit einem fetten finanzindustriellen Komplex in der Londoner City erzeugt werden; und Deutschland merkt, dass Russlands Krieg in der Ukraine die Strategie einer großen sozialökologischen Transformation mit dem Gas als Übergangstechnologie zur Klimaneutralität zunichte gemacht hat. Und allen europäischen Dienstleistungsgesellschaften sind die Dienstleister*innen ausgegangen.

Europa ist jetzt nur noch eine Wertegemeinschaft ohne Grund und Boden. Man streitet sich über die gerodete Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, man fürchtet die Entstehung eines Narco-Staates in den Niederlanden und will nicht über ein Frankreich nach Macron nachdenken. Und von einer europäischen Armee kann nach wie vor keine Rede sein.

Die Zukunft Europas liegt angesichts dieser Lage nicht in seinen Werten, sondern in seinen Problemen. Der Fall Ungarns beleuchtet die postsowjetischen Hinterlassenschaften in Europa. Zumeist städtischen, für die Europäische Union aufgeschlossenen Gruppen steht eine Mehrheit mit verschränkten Armen gegenüber, die der sozialen Wattierung im sowjetischen Herrschaftsmodus nachtrauert. Beide Gruppen eint das Misstrauen in Bezug auf die westlichen Werte, die sich als Beiwerk eines mörderischen Kapitalismus verstehen.

Daraus ergibt sich eine giftige Mischung aus Zynismus, Ressentiment und Indifferenz, der mit einer großzügigen europäischen Sozialpolitik nicht beizukommen ist. Frans Timmermans, der wie kein anderer in der europäischen Politik für einen Grünen Deal geworben und gekämpft hat, hat als Anführer eines grün-linken Bündnisses bei den letzten Parlamentswahlen in den Niederlanden als zweitstärkste Kraft 25 Sitze von 150 errungen und musste sich dem aus der Mottenkiste gesprungenen rechtspopulistischen Geert Wilders geschlagen geben, dessen Ein-Mann-Partei PVV (Partei für die Freiheit) 37 Mandate erhielt. Und im europäischen Wunderland Portugal hat eine unabhängige, aber schlampig arbeitende Justiz den Rücktritt des Regierungschefs erzwungen. Europa ist weder von Brüssel aus noch durch eine aktive Zivilgesellschaft zu retten. Die Bürger*innen Europas müssen die Augen öffnen und sich ein Bild davon machen, was für die einstige erste Welt, die in 30 Jahren vielleicht noch 8 Prozent der Weltbevölkerung stellt, in einer Welt mit vielen Zentren auf dem Spiel steht.

Die Transformation wird nicht an der Leine von einschlägigen Expert*innen gelingen

Das erste Problem ergibt sich aus der Demografie. Überall in Europa fehlen der Wirtschaft Menschen, die mitdenken und mitarbeiten. Die Intelligenz unseres Zusammenlebens wird nicht gegen, sondern nur mit der Wirtschaft unserer Gesellschaft entwickelt. Da ist genug zu tun, wenn man an die Smartphone-Ökonomien in Afrika oder an die vertikale Landwirtschaft in China denkt.

Dann wird die klimafreundliche Umwandlung unseres Produktions- und Konsumptionsmodells nicht als «Große Transformation» an der Leine von einschlägigen Expert*innen gelingen, sondern nur als gemeinsame und gerechte Anstrengung aller, die ihre Gewohnheiten ändern und die Kosten für grünen Stahl, schmackhafte Tomaten und ein funktionierendes grenzüberschreitendes Transportsystem in Europa tragen. Dann würde sich Europa von einem Kontinent der «Großen Transformation» zu einem der «Solidarischen Adaption» verwandeln.

Zudem wird Europa durch den Austausch über gemeinsame Probleme den unschätzbaren Wert des Individuums entdecken. Im Denken Europas ist das Individuum keine gesicherte Größe, sondern das Verbindungsglied in einem System beweglicher Ziele. Individuen wuseln sich durch, docken an und entdecken mit einem Mal ein freies Feld. Individuen betreiben demokratische Politik, machen wissenschaftliche Entdeckungen und probieren sich als «unternehmerische Unternehmer» im Sinne Schumpeters aus. Sie tun dies eben nicht aus einer Siegerpose heraus, sondern in dem Bewusstsein, dass das einzelne Ich für sich und für andere ein Rätsel darstellt und aus diesem Grunde die Quelle für neue Ideen und andere Kräfte bildet.

Europa ist heute mehr denn je eine Staatengemeinschaft und kein Bundesstaat. Jedes Land beansprucht eigene Ideen, Institutionen und Interessen. Und diese Vorstellungen liegen oft weit auseinander. Allerdings dämmert den Menschen in Europa auch, dass in der globalen Staatenwelt ein Hegemoniekonflikt zwischen einem US-amerikanischen und einem chinesischen «Way of Life and Power» herrscht. Die USA haben sich anscheinend zu einem Land freigesetzter und losgelöster Individuen entwickelt, die lieber allein bowlen gehen als zusammen Spaß zu haben. In China dagegen kann man auf Basis eines digital perfektionierten «Social Scoring»-Systems am staatlich organisierten Spiel der Privilegienvergabe nach Gemeinwohltauglichkeit teilnehmen. Die USA drohen an ihrem Pathos der Freiheit zu zerbrechen; China kann auf die Sehnsucht nach persönlichem Freisein nur mit Zwang reagieren. Die USA verteidigen ihre Machtstellung mit der einsatzfähigsten Armee der Welt; China baut dagegen eine international verlaufende Seidenstraße mit viel Kredit und wenig Ideologie auf. Beide Staaten haben in der Pandemie versagt: die USA, weil sie nicht effektiv schließen konnten, und China, weil es nicht legitim öffnen konnte.

Europa wird dem nichts entgegenhalten können, wenn es sich nicht als Union der Differenz verstehen kann. In Europa haben eine schwedische Strategie der abgeschwächten «natürlichen Selektion» und eine italienische der «strikten Eindämmung» in Gemeinsamkeit und Freiheit miteinander gerungen. Die Gemeinsamkeit kommt aus der Notwendigkeit einer europäischen Solidarität. Solidarität beruht auf Wechselseitigkeit, Großzügigkeit sowie auf dem kontrafaktischen Gedanken, dass die Zeit des gewordenen Europas zwar vergeht, aber die Zeit des werdenden Europas kommt.


Heinz Bude war von 2000 bis 2023 Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel und ist seit Oktober 2020 Gründungs­direktor des documenta Instituts. Zuletzt ist von ihm «Abschied von den Boomern» im Carl Hanser Verlag erschienen. 

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